Weltweite Inbetriebnahmen: Ein Erfahrungsbericht aus 30+ Projekten
Weltweite Inbetriebnahmen von FAT bis SAT: Kulturelle Herausforderungen, Troubleshooting unter Zeitdruck und Lessons Learned aus 30+ internationalen Projekten in USA, Asien und Afrika.

1.Einleitung
6 Uhr morgens am Flughafen Frankfurt. Boarding Call für Flug nach Detroit. Im Gepäck: Laptop, Multimeter – und ein kleines Werkzeugset.
Weltweite Inbetriebnahmen sind mehr als nur „SPS-Code auf die Maschine laden". Es ist Projektmanagement unter Zeitdruck, Troubleshooting mit begrenzten Ressourcen und interkulturelle Kommunikation.
In diesem Artikel teile ich meine Erfahrungen aus über 30 internationalen Inbetriebnahmen – von der Vorbereitung über den Funktionstest im Werk bis zur finalen Abnahme beim Endkunden. Mit Lessons Learned, Checklisten und konkreten Praxisbeispielen.
Kontext
Dieser Artikel richtet sich an Automatisierungs- und Inbetriebnahme-Ingenieure, die für Maschinenbauer oder Systemintegratoren weltweit tätig sind. Die Erfahrungen basieren auf Projekten in Europa (Deutschland, Luxemburg, Polen, Ukraine, Dänemark, Griechenland), USA, Japan, Tansania und Malawi.

2.Phase 1: Vorbereitung (6-8 Wochen vor Abreise)
2.1.Die unterschätzte Phase
Viele Inbetriebnahmen scheitern nicht vor Ort, sondern in der Vorbereitung. 60% aller Inbetriebnahme-Probleme lassen sich durch ordentlichen Funktionstest im Werk vermeiden.
2.2.Funktionstest im Werk - Das Fundament
Definition: Der Kunde akzeptiert die Maschine VOR Verschiffung im Werk des Maschinenbauers.
Meine Checkliste (3-5 Tage):
-
Tag 1: Mechanik & Elektrik
- Alle Motoren drehen in korrekter Richtung?
- Sicherheitskreise funktional (NOT-AUS, Lichtschranken, Safety-PLC)
- Pneumatik/Hydraulik: Drücke OK, keine Leckagen
-
Tag 2: Software-Funktionen
- Alle Betriebsarten (Auto, Manuell, Einrichten)
- Rezeptverwaltung, Datenlogging
- Alarmbehandlung: Mindestens 50 Fehlerszenarien provozieren!
-
Tag 3: Performance-Tests
- Zykluszeiten unter Last
- 24-Stunden-Dauerlauf (ja, wirklich 24h!)
- Statistische Auswertung (Cpk-Werte für kritische Parameter)
-
Tag 4: HMI & Bedienung
- Schulung des Kunden-Teams
- User Acceptance Testing (UAT)
- Feedback-Runde: Was fehlt noch?
-
Tag 5: Dokumentations-Übergabe
- Schaltpläne (aktualisiert!)
- SPS-Programm (Source + Compiled)
- Betriebsanleitung in Kundensprache
- Ersatzteilliste mit Lieferanten-Kontakten
ROI des Funktionstests
Ein gründlicher Funktionstest im Werk spart 60% Troubleshooting-Zeit bei der Inbetriebnahme vor Ort. Bei 2 Wochen Aufenthalt sind das 6 Arbeitstage = ca. 12.000 € eingesparte Kosten (Tagessatz + Spesen).
2.3.Dokumenten-Management
Checkliste für internationale Projekte:
- Reisepass (Gültigkeit > 6 Monate)
- Visum (B1 für USA – Vorlauf 4-8 Wochen!)
- CE-Konformitätserklärung (Englisch + Landessprache)
- Technische Dokumentation (Schaltpläne, SPS-Programm, Betriebsanleitung)
- Auslands-Krankenversicherung (Reiseversicherung reicht NICHT!)
- Einladungsbrief des Kunden (für Visum-Antrag)
- Notfall-Kontakte (Botschaft, Kontakt des Auftraggebers)
Pro-Tipp: Alle Dokumente als PDF in Cloud speichern (Google Drive, Dropbox). Physische Kopien separat vom Hauptgepäck.
3.Phase 2: Vor Ort beim Kunden
3.1.Tag 1: Site Assessment & Akklimatisierung
Nicht sofort in die Maschine stürzen!
Erste 2-3 Stunden:
- Facility-Tour mit lokalem Team
- IT-Infrastruktur prüfen (Internet-Qualität für VPN!)
- Sicherheits-Briefing (Notausgänge, Erste Hilfe, lokale Regeln)
- Werkzeug in sicheren Raum bringen
Kulturelle Stolperfallen (Erfahrungen):
- USA (Michigan): Sehr direkt, schnelle Entscheidungen. „Let's fix it NOW" – Überstunden normal.
- Japan: Hierarchie beachten! Entscheidungen nur mit Manager treffen. Sehr zurückhaltend und schüchtern. „Ja" bedeutet oft „Ich habe verstanden", nicht „Ich stimme zu".
- Afrika (Tansania/Malawi): Zeitmanagement flexibler. Geduld haben! Sonnencreme nicht vergessen – der Sonnenbrand kommt schneller als gedacht.
Kommunikation
In Asien: Kritik NIEMALS öffentlich äußern. Immer unter vier Augen, sehr diplomatisch. Gesichtsverlust ist fatal.
3.2.Tag 2-7: Software-Inbetriebnahme
Typischer Ablauf:
06:00 - 08:00 Vorbereitung (Team-Meeting, Tagesziele besprechen)
08:00 - 12:00 Hauptarbeit (Verkabelung prüfen, Software laden, erste Tests)
12:00 - 13:00 Mittagessen (WICHTIG: Mit lokalem Team essen → Vertrauensaufbau!)
13:00 - 18:00 Troubleshooting, Optimierung
18:00 - 20:00 Dokumentation, Logs sichern
20:00+ Optional: Remote-Meetings mit Deutschland (Zeitverschiebung!)
3.3.Troubleshooting unter Druck
Fall 1: Motor dreht nicht (Japan, 2019)
Problem: Hauptantrieb läuft nicht an. Zeitdruck: Produktion startet in 48h.
Systematisches Vorgehen:
- Hardware-Check: 24V OK, Motorschutz OK, Schütz schaltet NICHT
- Signal-Verfolgung: SPS-Ausgang %Q0.0 = TRUE (Software OK)
- Verkabelung: Durchgangsprüfung → Kabelbruch in Kabelkanal!
- Root Cause: Mechaniker hat Kabel beim Montieren beschädigt
Lessons Learned: IMMER bei „Motor läuft nicht" zuerst Hardware prüfen, nicht Software!
Fall 2: HMI zeigt falsche Werte (Polen, 2022)
Problem: Temperaturanzeige zeigt -273°C (physikalisch unmöglich).
Root Cause: Skalierung im HMI falsch konfiguriert (°F statt °C).
Lessons Learned: Unit-Tests auch für HMI-Visualisierungen! (Mock-Daten einlesen, Anzeigen prüfen)
3.4.Remote-Support effektiv nutzen
Setup (VORHER klären!):
- VPN-Zugang zur SPS (Firewall-Regeln vorher mit IT abstimmen!)
- TeamViewer/AnyDesk auf lokalem PC installieren
- WhatsApp/Signal-Gruppe mit Engineering-Team in Deutschland
Best Practice:
- Screenshots/Videos von Problemen schicken (nicht nur Text!)
- Logfiles automatisch per FTP nach Deutschland senden
- Täglich 30-Min Status-Call mit Heimat-Office (feste Zeit!)
Zeitverschiebung
In Japan (+8h zu DE): Abends in Japan = Vormittag in Deutschland → ideales Zeitfenster für Remote-Support!
3.5.Tag 8-10: Performance-Optimierung & Training
Nicht nur „läuft" – sondern „läuft optimal"!
Optimierungsbeispiele:
- Zykluszeit von 45s auf 38s reduziert (16% Produktivitätssteigerung!)
- Ausschussrate von 3,2% auf 0,8% durch Sensor-Feinjustierung
- Energieverbrauch -12% durch optimierte Ablaufsteuerung
Schulung des lokalen Teams:
DO:
- Hands-on Training (nicht nur Powerpoint!)
- Checklisten für häufige Störungen erstellen
- „First Level Support" befähigen (90% der Probleme sind simpel)
DON'T:
- Alles auf einmal erklären (Overload!)
- Nur in Englisch schulen (Dolmetscher organisieren!)
- Ohne schriftliche Dokumentation (Vergessen ist menschlich)
3.6.Tag 11-14: Finale Abnahme
Kunde testet ALLES nochmal:
- Produktions-Dummies durchlaufen (wenn möglich: echte Produkte!)
- Qualitätsdaten erfassen (Cpk-Werte, Messberichte)
- 24h-Dauerlauf unter Produktionsbedingungen
Protokollierung:
- Abnahme-Protokoll unterschreiben lassen (rechtlich bindend!)
- Fotos von finaler Anlage (Beweis bei späteren Reklamationen)
- Übergabe ALLER Zugangsdaten (Passwörter, VPN-Zugänge, Cloud-Accounts)
Erfolgsquote
Bei gründlichem Funktionstest + strukturierter Inbetriebnahme: 95% erfolgreiche Abnahme beim ersten Versuch. Ohne Funktionstest: nur 60%.
4.Phase 3: Nach der Abnahme – Der oft vergessene Teil
4.1.Follow-Up Support (30 Tage)
Best Practice: 30-Tage-Support-Garantie nach Abnahme.
Typischer Support-Call:
- Woche 1: 3-5 Calls (normale Anlaufschwierigkeiten)
- Woche 2: 1-2 Calls
- Woche 3+: < 1 Call pro Woche
Wenn mehr Calls: Rückflug einplanen oder lokalen Partner beauftragen.
4.2.Lessons Learned & Dokumentation
Post-Projekt-Review (intern):
- Was lief gut?
- Was lief schlecht?
- Welche Probleme wiederholen sich? (Root Cause analysieren!)
- Kann man den Funktionstest verbessern?
Dokumentation aktualisieren:
- Schaltpläne (immer!)
- SPS-Programm (finale Version archivieren)
- Betriebsanleitung (Errata-Liste falls Fehler gefunden)
5.Die 10 größten Fehler bei internationalen Inbetriebnahmen
- Kein ordentlicher Funktionstest im Werk → 60% der Probleme vermeidbar
- Jetlag unterschätzen → Konzentration leidet massiv (besonders Japan mit 8h Zeitverschiebung)
- Notfallmedikamente vergessen → Essen nicht vertragen ist ein echtes Problem (besonders Afrika)
- Kulturelle Unterschiede ignorieren → Kommunikations-Breakdown
- Sonnencreme vergessen → Schneller Sonnenbrand in Afrika
- IT-Infrastruktur vor Ort unterschätzt → Kein VPN, kein Internet
- Lokales Team nicht schulen → 1000 Support-Calls nach Abreise
- 24h-Dauerlauf überspringen → Fehler erst nach Wochen sichtbar
- Keine Puffertage → Ein Problem = gesamter Zeitplan kollabiert
- Dokumentation auf Deutsch → Kunde kann nichts verstehen

6.Meine persönliche Packliste
6.1.Handgepäck (niemals aufgeben!)
- Laptop + Ladegerät
- Powerbank (20.000 mAh)
- Noise-Canceling Kopfhörer (Lebensretter auf Langstreckenflügen!)
- Reiseadapter (Universal-Adapter World to World)
- USB-Sticks mit ALLEN Software-Versionen (TIA Portal, HMI-Projekte)
- Erste-Hilfe-Set (Schmerzmittel, Durchfall-Tabletten!)
6.2.Aufgabegepäck (Wichtig!)
- Werkzeugkoffer (Schraubendreher, Zange, Seitenschneider) – UNVERZICHTBAR!
- Multimeter (Fluke 87V)
- LAN-Kabel (Cat6, 10m + 20m)
- WLAN-Router (für lokales Netzwerk falls vor Ort schlecht)
- Profinet-Kabel und verschiedene Adapter
- Kleidung (Business + Casual – Klimaanlage kann sehr kalt sein!)
7.Fazit: Die besten Erfahrungen meines Lebens
Weltweite Inbetriebnahmen sind anstrengend, stressig – aber unglaublich bereichernd.
Was ich gelernt habe:
- Technisches Wissen allein reicht nicht – Soft Skills sind 50% des Erfolgs
- Kulturelle Unterschiede sind keine Hürde, sondern eine Bereicherung
- Ein guter Funktionstest im Werk ist Gold wert
- Lokale Partner sind wichtiger als das beste Equipment
Persönliche Highlights:
-
Japan: Die Arbeit mit dem zurückhaltenden, aber unglaublich präzisen Team. Der Jetlag war brutal (8h Zeitverschiebung), aber die Erfahrung unbezahlbar. Sushi essen wie die Japaner es zelebrieren – ganz anderer Stil als bei uns! In der Freizeit: Tokio erkundet, die wunderschönen Tempel und Gärten in Kyoto, und Osaka mit seiner coolen Skater/Hip-Hop-Kultur und dem Nachtleben.
-
Afrika: Nach dem Projekt in Tansania/Malawi ein paar Tage Urlaub auf Zanzibar – unvergesslich!
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USA: Nach dem Michigan-Projekt: Miami, Key West, New York, Chicago – Amerika von seiner besten Seite.
-
„Thank you, you saved our production!" – das schönste Lob, das man bekommen kann.
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8.Weiterführende Ressourcen
- Visum-Informationen: Auswärtiges Amt
- Reise-Krankenversicherung: BDAE Gruppe
- Kulturelle Vorbereitung: Hofstede Insights
Über den Autor: David Prybisch ist seit über 10 Jahren in der weltweiten Inbetriebnahme tätig. Er hat in über 30 Projekten auf 4 Kontinenten Maschinen und Produktionslinien in Betrieb genommen.
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