process

Weltweite Inbetriebnahmen: Ein Erfahrungsbericht aus 30+ Projekten

Weltweite Inbetriebnahmen von FAT bis SAT: Kulturelle Herausforderungen, Troubleshooting unter Zeitdruck und Lessons Learned aus 30+ internationalen Projekten in USA, Asien und Afrika.

David Prybisch
14 Min. Lesezeit
Weltweite Inbetriebnahmen: Ein Erfahrungsbericht aus 30+ Projekten

1.Einleitung

6 Uhr morgens am Flughafen Frankfurt. Boarding Call für Flug nach Detroit. Im Gepäck: Laptop, Multimeter – und ein kleines Werkzeugset.

Weltweite Inbetriebnahmen sind mehr als nur „SPS-Code auf die Maschine laden". Es ist Projektmanagement unter Zeitdruck, Troubleshooting mit begrenzten Ressourcen und interkulturelle Kommunikation.

In diesem Artikel teile ich meine Erfahrungen aus über 30 internationalen Inbetriebnahmen – von der Vorbereitung über den Funktionstest im Werk bis zur finalen Abnahme beim Endkunden. Mit Lessons Learned, Checklisten und konkreten Praxisbeispielen.

Weltkarte mit Projektstandorten: Deutschland, USA, Japan, Tansania, Malawi

2.Phase 1: Vorbereitung (6-8 Wochen vor Abreise)

2.1.Die unterschätzte Phase

Viele Inbetriebnahmen scheitern nicht vor Ort, sondern in der Vorbereitung. 60% aller Inbetriebnahme-Probleme lassen sich durch ordentlichen Funktionstest im Werk vermeiden.

2.2.Funktionstest im Werk - Das Fundament

Definition: Der Kunde akzeptiert die Maschine VOR Verschiffung im Werk des Maschinenbauers.

Meine Checkliste (3-5 Tage):

  1. Tag 1: Mechanik & Elektrik

    • Alle Motoren drehen in korrekter Richtung?
    • Sicherheitskreise funktional (NOT-AUS, Lichtschranken, Safety-PLC)
    • Pneumatik/Hydraulik: Drücke OK, keine Leckagen
  2. Tag 2: Software-Funktionen

    • Alle Betriebsarten (Auto, Manuell, Einrichten)
    • Rezeptverwaltung, Datenlogging
    • Alarmbehandlung: Mindestens 50 Fehlerszenarien provozieren!
  3. Tag 3: Performance-Tests

    • Zykluszeiten unter Last
    • 24-Stunden-Dauerlauf (ja, wirklich 24h!)
    • Statistische Auswertung (Cpk-Werte für kritische Parameter)
  4. Tag 4: HMI & Bedienung

    • Schulung des Kunden-Teams
    • User Acceptance Testing (UAT)
    • Feedback-Runde: Was fehlt noch?
  5. Tag 5: Dokumentations-Übergabe

    • Schaltpläne (aktualisiert!)
    • SPS-Programm (Source + Compiled)
    • Betriebsanleitung in Kundensprache
    • Ersatzteilliste mit Lieferanten-Kontakten

2.3.Dokumenten-Management

Checkliste für internationale Projekte:

  • Reisepass (Gültigkeit > 6 Monate)
  • Visum (B1 für USA – Vorlauf 4-8 Wochen!)
  • CE-Konformitätserklärung (Englisch + Landessprache)
  • Technische Dokumentation (Schaltpläne, SPS-Programm, Betriebsanleitung)
  • Auslands-Krankenversicherung (Reiseversicherung reicht NICHT!)
  • Einladungsbrief des Kunden (für Visum-Antrag)
  • Notfall-Kontakte (Botschaft, Kontakt des Auftraggebers)

Pro-Tipp: Alle Dokumente als PDF in Cloud speichern (Google Drive, Dropbox). Physische Kopien separat vom Hauptgepäck.

3.Phase 2: Vor Ort beim Kunden

3.1.Tag 1: Site Assessment & Akklimatisierung

Nicht sofort in die Maschine stürzen!

Erste 2-3 Stunden:

  1. Facility-Tour mit lokalem Team
  2. IT-Infrastruktur prüfen (Internet-Qualität für VPN!)
  3. Sicherheits-Briefing (Notausgänge, Erste Hilfe, lokale Regeln)
  4. Werkzeug in sicheren Raum bringen

Kulturelle Stolperfallen (Erfahrungen):

  • USA (Michigan): Sehr direkt, schnelle Entscheidungen. „Let's fix it NOW" – Überstunden normal.
  • Japan: Hierarchie beachten! Entscheidungen nur mit Manager treffen. Sehr zurückhaltend und schüchtern. „Ja" bedeutet oft „Ich habe verstanden", nicht „Ich stimme zu".
  • Afrika (Tansania/Malawi): Zeitmanagement flexibler. Geduld haben! Sonnencreme nicht vergessen – der Sonnenbrand kommt schneller als gedacht.

3.2.Tag 2-7: Software-Inbetriebnahme

Typischer Ablauf:

06:00 - 08:00 Vorbereitung (Team-Meeting, Tagesziele besprechen)

08:00 - 12:00 Hauptarbeit (Verkabelung prüfen, Software laden, erste Tests)

12:00 - 13:00 Mittagessen (WICHTIG: Mit lokalem Team essen → Vertrauensaufbau!)

13:00 - 18:00 Troubleshooting, Optimierung

18:00 - 20:00 Dokumentation, Logs sichern

20:00+ Optional: Remote-Meetings mit Deutschland (Zeitverschiebung!)

3.3.Troubleshooting unter Druck

Fall 1: Motor dreht nicht (Japan, 2019)

Problem: Hauptantrieb läuft nicht an. Zeitdruck: Produktion startet in 48h.

Systematisches Vorgehen:

  1. Hardware-Check: 24V OK, Motorschutz OK, Schütz schaltet NICHT
  2. Signal-Verfolgung: SPS-Ausgang %Q0.0 = TRUE (Software OK)
  3. Verkabelung: Durchgangsprüfung → Kabelbruch in Kabelkanal!
  4. Root Cause: Mechaniker hat Kabel beim Montieren beschädigt

Lessons Learned: IMMER bei „Motor läuft nicht" zuerst Hardware prüfen, nicht Software!

Fall 2: HMI zeigt falsche Werte (Polen, 2022)

Problem: Temperaturanzeige zeigt -273°C (physikalisch unmöglich).

Root Cause: Skalierung im HMI falsch konfiguriert (°F statt °C).

Lessons Learned: Unit-Tests auch für HMI-Visualisierungen! (Mock-Daten einlesen, Anzeigen prüfen)

3.4.Remote-Support effektiv nutzen

Setup (VORHER klären!):

  • VPN-Zugang zur SPS (Firewall-Regeln vorher mit IT abstimmen!)
  • TeamViewer/AnyDesk auf lokalem PC installieren
  • WhatsApp/Signal-Gruppe mit Engineering-Team in Deutschland

Best Practice:

  • Screenshots/Videos von Problemen schicken (nicht nur Text!)
  • Logfiles automatisch per FTP nach Deutschland senden
  • Täglich 30-Min Status-Call mit Heimat-Office (feste Zeit!)

3.5.Tag 8-10: Performance-Optimierung & Training

Nicht nur „läuft" – sondern „läuft optimal"!

Optimierungsbeispiele:

  • Zykluszeit von 45s auf 38s reduziert (16% Produktivitätssteigerung!)
  • Ausschussrate von 3,2% auf 0,8% durch Sensor-Feinjustierung
  • Energieverbrauch -12% durch optimierte Ablaufsteuerung

Schulung des lokalen Teams:

DO:

  • Hands-on Training (nicht nur Powerpoint!)
  • Checklisten für häufige Störungen erstellen
  • „First Level Support" befähigen (90% der Probleme sind simpel)

DON'T:

  • Alles auf einmal erklären (Overload!)
  • Nur in Englisch schulen (Dolmetscher organisieren!)
  • Ohne schriftliche Dokumentation (Vergessen ist menschlich)

3.6.Tag 11-14: Finale Abnahme

Kunde testet ALLES nochmal:

  • Produktions-Dummies durchlaufen (wenn möglich: echte Produkte!)
  • Qualitätsdaten erfassen (Cpk-Werte, Messberichte)
  • 24h-Dauerlauf unter Produktionsbedingungen

Protokollierung:

  • Abnahme-Protokoll unterschreiben lassen (rechtlich bindend!)
  • Fotos von finaler Anlage (Beweis bei späteren Reklamationen)
  • Übergabe ALLER Zugangsdaten (Passwörter, VPN-Zugänge, Cloud-Accounts)

4.Phase 3: Nach der Abnahme – Der oft vergessene Teil

4.1.Follow-Up Support (30 Tage)

Best Practice: 30-Tage-Support-Garantie nach Abnahme.

Typischer Support-Call:

  • Woche 1: 3-5 Calls (normale Anlaufschwierigkeiten)
  • Woche 2: 1-2 Calls
  • Woche 3+: < 1 Call pro Woche

Wenn mehr Calls: Rückflug einplanen oder lokalen Partner beauftragen.

4.2.Lessons Learned & Dokumentation

Post-Projekt-Review (intern):

  1. Was lief gut?
  2. Was lief schlecht?
  3. Welche Probleme wiederholen sich? (Root Cause analysieren!)
  4. Kann man den Funktionstest verbessern?

Dokumentation aktualisieren:

  • Schaltpläne (immer!)
  • SPS-Programm (finale Version archivieren)
  • Betriebsanleitung (Errata-Liste falls Fehler gefunden)

5.Die 10 größten Fehler bei internationalen Inbetriebnahmen

  1. Kein ordentlicher Funktionstest im Werk → 60% der Probleme vermeidbar
  2. Jetlag unterschätzen → Konzentration leidet massiv (besonders Japan mit 8h Zeitverschiebung)
  3. Notfallmedikamente vergessen → Essen nicht vertragen ist ein echtes Problem (besonders Afrika)
  4. Kulturelle Unterschiede ignorieren → Kommunikations-Breakdown
  5. Sonnencreme vergessen → Schneller Sonnenbrand in Afrika
  6. IT-Infrastruktur vor Ort unterschätzt → Kein VPN, kein Internet
  7. Lokales Team nicht schulen → 1000 Support-Calls nach Abreise
  8. 24h-Dauerlauf überspringen → Fehler erst nach Wochen sichtbar
  9. Keine Puffertage → Ein Problem = gesamter Zeitplan kollabiert
  10. Dokumentation auf Deutsch → Kunde kann nichts verstehen

Infografik: Die 10 größten Fehler bei internationalen Inbetriebnahmen

6.Meine persönliche Packliste

6.1.Handgepäck (niemals aufgeben!)

  • Laptop + Ladegerät
  • Powerbank (20.000 mAh)
  • Noise-Canceling Kopfhörer (Lebensretter auf Langstreckenflügen!)
  • Reiseadapter (Universal-Adapter World to World)
  • USB-Sticks mit ALLEN Software-Versionen (TIA Portal, HMI-Projekte)
  • Erste-Hilfe-Set (Schmerzmittel, Durchfall-Tabletten!)

6.2.Aufgabegepäck (Wichtig!)

  • Werkzeugkoffer (Schraubendreher, Zange, Seitenschneider) – UNVERZICHTBAR!
  • Multimeter (Fluke 87V)
  • LAN-Kabel (Cat6, 10m + 20m)
  • WLAN-Router (für lokales Netzwerk falls vor Ort schlecht)
  • Profinet-Kabel und verschiedene Adapter
  • Kleidung (Business + Casual – Klimaanlage kann sehr kalt sein!)

7.Fazit: Die besten Erfahrungen meines Lebens

Weltweite Inbetriebnahmen sind anstrengend, stressig – aber unglaublich bereichernd.

Was ich gelernt habe:

  • Technisches Wissen allein reicht nicht – Soft Skills sind 50% des Erfolgs
  • Kulturelle Unterschiede sind keine Hürde, sondern eine Bereicherung
  • Ein guter Funktionstest im Werk ist Gold wert
  • Lokale Partner sind wichtiger als das beste Equipment

Persönliche Highlights:

  • Japan: Die Arbeit mit dem zurückhaltenden, aber unglaublich präzisen Team. Der Jetlag war brutal (8h Zeitverschiebung), aber die Erfahrung unbezahlbar. Sushi essen wie die Japaner es zelebrieren – ganz anderer Stil als bei uns! In der Freizeit: Tokio erkundet, die wunderschönen Tempel und Gärten in Kyoto, und Osaka mit seiner coolen Skater/Hip-Hop-Kultur und dem Nachtleben.

  • Afrika: Nach dem Projekt in Tansania/Malawi ein paar Tage Urlaub auf Zanzibar – unvergesslich!

  • USA: Nach dem Michigan-Projekt: Miami, Key West, New York, Chicago – Amerika von seiner besten Seite.

  • „Thank you, you saved our production!" – das schönste Lob, das man bekommen kann.

8.Weiterführende Ressourcen


Über den Autor: David Prybisch ist seit über 10 Jahren in der weltweiten Inbetriebnahme tätig. Er hat in über 30 Projekten auf 4 Kontinenten Maschinen und Produktionslinien in Betrieb genommen.

Schlagwörter

InbetriebnahmeCommissioningFATSATWeltweite ProjekteReisebereitschaftMaschinenbauProjektmanagementKulturelle UnterschiedeTroubleshooting

Weitere Artikel

SPS-Programmierung Best Practices
engineering
15 Min.

SPS-Programmierung Best Practices

SPS-Programmierung Best Practices: Strukturierte Programmierung nach IEC 61131-3, Namenskonventionen, Fehlerbehandlung und wartbare Code-Strukturen für Siemens TIA Portal.

Weiterlesen: SPS-Programmierung Best Practices